Informationen
Die Verfasser haben sich Mitte Mai 2017 im Schauspielhaus Köln am Tribunal NSU-Komplex auflösen an der Durchführung des Themenabends „Tatort Kassel“ beteiligt. Das erfolgte in Kooperation mit der Recherchegruppe Forensic Arcitecture (FA) vom Goldsmith College der Universität London. FA hatte eine Reihe von Versuchsanordnungen in einer Nachbildung des Internet-Cafés von Kassel im 1 & 1 Format durchgeführt. Damit wurde der Nachweis geführt, dass die Behauptungen des Verfassungsschutzbeamten des Landes Hessen Andreas Temme, er habe weder die tödlichen Schüsse im Internetcafé gehört noch gerochen bezw. auch nicht die Leiche von Halit Yozgat hinter dem Tresen gesehen, außerhalb jeden Wahrheitshorizontes liegen.
Unmittelbar am Ende der Präsentation im Kölner Schauspielhaus setzte beim Theaterpublikum Begeisterung als auch Erleichterung ein: Es war Zeuge und Zeugin davon geworden, wie der Verfassungsschutzbeamte – quasi als spontane Reaktion auf ein vom Kasper von der Bühne geprügeltes Krokodil – der Lüge überführt werden konnte. Direkt in das klatschen des Publikums hinein zeigten wir mit einem fortgeführten Dokumentartheater, wie die Causa Temme von den Sicherheitsbehörden – frei von jedem Versagen – im Verlaufe des Jahres 2006 – dann so bereinigt wurde, dass jede Form der weiteren Aufklärung des Mordes erfolgreich unterbunden werden konnte. So war am Ende der Präsentation jede Erleichterung wieder verflogen. Mit diesem Buch führen wir weiter aus, was wir im Mai 2017 auf der Bühne des Schauspielhauses in Köln präsentiert haben.
„Stärkere Strahlkraft“ wurde vom Designer Felix Hille, Leipzig gestaltet.
Die Vorstellung fand Anfang November 2021 in einer Veranstaltung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin-Kreuzberg statt. Zu dieser Veranstaltung existiert eine Aufzeichnung bei Youtube.
Dazu gibt es auch einen Pressebericht: Jana Frielinghaus, Verdunkler / Vom Nichthandeln bis zur Sabotage: Markus Mohr und Daniel Roth haben den Verlauf der polizeilichen Ermittlungen nach den NSU-Morden analysiert, in: Neues Deutschland vom 3.11.2021.
Zwischenzeitlich wurden zu dem Buch zwei längere Besprechungen verfasst:
• Ilse Bindseil, Störrische Gedanken zu Mohr/Roths gigantischen Untersuchungen über „Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000–2011“, auf: www.ilsebindseil.de vom 7.3.2022.
• Dominik Rigoll, Laura Haßler, Forschungen und Quellen zur deutschen Rechten. Teil 2: Handlungen und Wirkungen, in: Archiv für Sozialgeschichte, Rechtsextremismus nach 1945, Bonn 2023, S. 491–545, hier S. 531–533
Markus Mohr, geb. 1962 in Süderdithmarschen, Kfz-Mechaniker, Dr. rer. pol., Sachbuchautor
Daniel Roth, geb. 1971 in Radolfzell, Dr. Phil., Lehrer
Textauszug
ZEITSTRAHL
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2024
Warum der Mord an Süleyman Taşköprü so lange als Teil der NSU-Serie verschleiert wurde
Süleyman Taşköprü bat am Mittwoch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr seinen Vater Ali, sich um den Einkauf von Waren zu kümmern. Danach muss er in seinem Gemüseladen in der Schützenstraße 39 in Altona von seinen Mördern überrascht worden sein. Sie erschossen ihn mit drei Kugeln, abgegeben aus zwei Pistolen, einer Česká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um ungefähr 11.15 Uhr wieder zurückkehrte, fand er seinen Sohn auf dem Fußboden des Verkaufsraumes liegend mit einer blutenden Kopfverletzung vor. Wenig später konnte der Notarzt nur noch den Tod feststellen. Kurz darauf traf die Polizei ein und nahm die Ermittlungen in dem Tötungsdelikt auf. Die lokale Presse in der Stadt (BILD-Zeitung, Hamburger Morgenpost, Hamburger Abendblatt) berichteten dazu in den folgenden Tagen. Im Hamburger Abendblatt (HAB) war über einen „mysteriösen Mord am helllichten Tag“ sowie einer „Hinrichtung im Gemüseladen“ zu lesen. Aus der Sicht der polizeilichen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völlig im Dunkeln“. Dem Abendblatt war es aber hier wichtig, dahingehend über das Motiv zu spekulieren, dass für die Tat „Schutzgelderpressung“ in Frage komme, wo „in vielen Fällen (…) die verbotene kurdische PKK dahinter“ stecke. (HAB v. 28.6.2001)Vater Taşköprü: Deutsche Täter
Noch am Tag des Mordes vernahm die Polizei Taşköprüs Vater das erste Mal. Er habe bei seiner Rückkehr vor dem Geschäft zwei Männer gesehen, gab er zu Protokoll. Beide hätten gleich ausgesehen und seien 25 bis 30 Jahre alt gewesen. Auf die Frage: „Deutsche oder Türken?“, antwortete er: Deutsche. Ein Streit, in den sein Sohn habe verwickelt sein können, sei ihm nicht bekannt gewesen. Zwei Tage später gab es eine zweite Vernehmung. Er bekräftigte erneut, bei seiner Rückkehr zum Laden zwei männliche Personen im Bereich vor dem Laden gesehen zu haben, die sich in südliche Richtung entfernt hätten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchstens 25 Jahre alt. Ob „deutsch“ oder „ausländisch“, wusste er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „südländisch“ gewesen seien. Ihre Haarfarbe sei hell gewesen. Es gab jedoch im Zusammenhang mit der Tatzeit noch weitere Zeuginnen. Eine gab dabei an, sie habe in den vergangenen etwa 14 Tagen mehrfach einen BMW beobachtet, dessen Fahrer mit Süleyman Taşköprü gesprochen habe, weder freundlich noch aggressiv. Eine genauere Beschreibung konnte sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Südländer“ gehandelt, gab diese Zeugin zu Protokoll. Eine weitere Zeugin sagte aus, sie habe in ihrer Wohnung über dem Geschäft einen lauten Streit zwischen zwei Männern wahrgenommen. Auf die Frage, ob auf Deutsch oder „ausländisch“ gebrüllt worden sei, wollte sie nicht ausschließen, dass auch „türkische Worte“ gefallen seien. Eine dritte Zeugin berichtete von einem wenige Tage zurückliegenden Streit, den sie mitbekommen habe: Drei „südländisch“ aussehende Männer hätten sich im Laden aufgehalten, einer von ihnen hätte dem späteren Opfer „aufgeregt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen. Zunächst konnte die Polizei natürlich noch nicht wissen, dass es sich um den dritten Mord als Teil einer Serie handelte. Am 9. September 2000 war der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in seinem Transportwagen an einer Ausfallstraße bei Nürnberg ebenfalls mit zwei Tatwaffen erschossen worden. Elf Monate später, am 13. Juni 2001, also gerade einmal zwei Wochen vor der Ermordung Taşköprüs war — ebenfalls in Nürnberg — der türkische Staatsangehörige Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei mit einer Pistole Marke Česká 83 ermordet worden. Das ergab die unmittelbar nach den beiden Taten vorgenommenen kriminaltechnische Untersuchung des Bundeskriminalamtes (BKA). Mit der Česká 83 war dieselbe Waffe als Tatwaffe verwendet worden. Vom Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pressemitteilung kommuniziert worden.1Über Hamburg hinaus
Der Wissensstand der Hamburger Ermittler*innen zu der Mordsache Taşköprü sollte sich aber schnell und gravierend ändern. Als sie noch am Tattag zu dem Mord an Taşköprü ein Fernschreiben an bundesweite Dienststellen absetzten, meldeten sich schon kurz darauf die Nürnberger Kolleg*innen, die in der Mordsache Özüdoğru ermittelten. Offenbar kam ihnen der Modus Operandi der Mordtat bekannt vor. Jahre später, Ende Juni 2005 nach dem siebten Mord in der Serie, rapportierte das Hamburger Abendblatt die Aussage eines ungenannten Hamburger Ermittlers aus der Mordkommission: Sie seien noch am späten Abend des 27. Juni 2001 von Nürnberger Kolleg*innen angerufen worden. Dadurch sei ihnen klar geworden, „dass der Fall über Hamburg hinausgeht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag später informierten die Nürnberger Polizist*innen ihre Hamburger Kolleg*innen per Fax darüber, dass „die gleiche Tatwaffe“ bei der Tötung von zwei türkischen Staatsbürgern verwendet worden sei. Das war eine außerordentlich wichtige Information. Die Ermittler*innen sowohl in Hamburg wie auch in Nürnberg hätten also allen Grund dazu gehabt – umgangssprachlich formuliert – Alarm zu schlagen: Es war doch definitiv klar, dass man mit einer Mordserie in zwei großen Städten in der Bundesrepublik konfrontiert war. Und was passierte nun? Richtig: Zwecks genauer Prüfung der Tatwaffe wandten sich die Hamburger Ermittler*innen an das BKA und warteten. Wie lange? Es sollte lange zwei Monate, sprich bis zum 31. August 2001, dauern, bis das BKA die Identität der Tatwaffen im Hamburger und den beiden Morden an Şimşek und Özüdoğru feststellte. Gleich dazu die nächste Frage: Warum hat das BKA die eigentlich seit Ende Juni 2001 anstehende kriminaltechnische Untersuchung erst Ende August abgeschlossen? In München hatte sich, keine 72 Stunden zuvor, der nächste Mord, der vierte in der Serie, ereignet: Am 29. August 2001 zwischen 10.35 und 10.50 Uhr erschossen die Mörder im „Frischmarkt“ in der Bad-Schachener-Straße 14 in München den hinter dem Kassentresen stehenden 38-jährigen türkischen Gemüsehändler Habil Kılıç. Das BKA ermittelte hier binnen kürzester Frist, schon am 4. September, dass es sich um dieselbe Česká 83-Tatwaffe wie bei den drei vorangegangen Morden gehandelt hatte. Denkbar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Hamburger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offene Anfrage bezüglich der Tatwaffe von Hamburg von Ende Juni 2001 erinnert hatten.Deutlich zu lange Frist
Ende August 2013 wurde der Abschlussbericht des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestages zum NSU-Komplex veröffentlicht. In ihren gemeinsamen Bewertungen erklärten sich alle Fraktionen mit den in Bezug auf die Mordsache Taşköprü ungewöhnlich schleppend durchgeführten Ermittlungen nicht zufrieden. Eine „deutlich zu lange Frist“ ist da vermerkt. Ja, so darf man es wohl formulieren, um dann noch nachzuschieben, dass leider „nicht geklärt werden konnte, wer für die Verzögerung die Verantwortung trug“, zumal „nach dem nächsten Mord in München (…) die Feststellung der Serienzugehörigkeit weniger als eine Woche“ gedauert habe.2 Doch es kommt noch besser: Das Polizeipräsidium Mittelfranken veröffentlichte aus direktem Anlass der Ermordung von Kılıç am 5. September 2001 eine Pressemeldung. In Bezug auf den „Mord an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg“ wird nun in der Überschrift auf einen „Zusammenhang mit Mordfall in München“ hingewiesen: „Auf Grund des Schusswaffenvergleichs“ bei den Morden an Şimşek (9.9.200) und Özüdoğru (13.6.2001) sei „eine Identität der Tatwaffen festgestellt“ worden. Nun sei auch „der türkische Staatsangehörige Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen erschossen aufgefunden“ worden. In der Pressemitteilung wird von der Polizei nicht von einer Mordserie gesprochen, aber weiter wird ausgeführt: „Wie jetzt feststeht, ist auch im Münchener Fall die Tatwaffe identisch. Alle Fälle sind bisher noch nicht geklärt.“3 Alle Fälle? Der Mord an Süleyman Taşköprü wird doch explizit nicht erwähnt. Warum wird er von der Polizei auch zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht zu „allen Fällen“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Identität der Tatwaffe bestätigt worden war.„Türkische Mentalität“
Nächste Frage: Wie lange dauerte es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffentlichkeit von dem Mord an Taşköprü als Teil derselben Mordserie zu unterrichten? Kurze Antwort: Zwei weitere Monate. Erst am 9. November 2001 setzte das Polizeipräsidium Mittelfranken die Öffentlichkeit via Pressemitteilung nun auch über einen, wie sie formulierte, „Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg“ in Kenntnis. Vier Monate waren nun vergangen nachdem die Nürnberger Ermittler*innen die Hamburger Polizeikolleg*innen im Mordfall Taşköprü auf den unmittelbaren Zusammenhang mit einer Mordserie aufmerksam gemacht hatten. Immerhin findet sich in dieser Pressemitteilung erstmals der Begriff „Mordserie“. Hier hielt es die Polizei für angezeigt, darauf hinzuweisen, dass sich „nach Zeugenangaben (…) zwei Tage vor dem Verbrechen (an Taşköprü) drei Türken in dem Laden aufgehalten haben und sich mit dem späteren Mordopfer in sehr aggressiver Weise gestritten haben.“4 Die Polizei fertigte nach diesen Angaben ein Phantombild an. Die zu der Pressemitteilung hinzugefügte Bildveröffentlichung zeigte zwei „südländisch“ aussehende Verdächtige. Den Betrachter*innen wird so nahegelegt, es habe sich um einen Streit „unter den Türken“ gehandelt.. Ignoriert wurden die gegenläufigen Angaben in den Tatbeobachtungen des Vaters von Süleyman Taşköprü, der ja ausgeschlossen hatte, dass die beiden Täter „südländisch“ ausgesehen hätten, auch weil von ihm deren Haarfarbe als hell beschrieben worden war. Denkbar hier, dass die Polizeibeamt*innen dieser Aussage aus einem bestimmten Grund keine besondere Aufmerksamkeit schenken wollten: So formulierte diese Pressemitteilung eine in der Sache zwar falsche, gleichwohl für die weiteren polizeilichen Ermittlungen in den nächsten Jahren wirksame rassistische Erzählung: „Die Ermittlungen gestalteten sich aufgrund der türkischen Mentalität und der damit verbundenen Zurückhaltung sowie der Sprachbarriere von Anfang an sehr schwierig.“Keine Soko für Hamburg
Auch heute noch türmen sich die weiter offenen Fragen zu den Ermittlungen der Hamburger Polizei im Mordfall Taşköprü auf. Wie mag denn gerade in den ersten Monaten nach dem 27. Juni 2001 die Zusammenarbeit zwischen den Hamburger und den Nürnberger Strafverfolgungsbehörden ausgesehen haben, die der Öffentlichkeit in der Pressemitteilung vom 9.11.2001 als „eng“ vorgestellt worden war? Wie eng konnte sie gewesen sein, wenn schon im Nürnberger Fernschreiben vom 28. Juni 2001 darauf hingewiesen wurde, dass zwei Tötungsdelikte an türkischen Staatsbürgern in Nürnberg mit der gleichen Tatwaffe verübt worden seien? Und warum wurde in Hamburg nicht wie in Nürnberg Mitte September 2001 eine Soko gebildet, als allmählich klar wurde, dass es sich um eine Mordserie handelte? Fragen über Fragen. Die Hamburger Sicherheitsbehörden haben den parlamentarischen Untersuchungshausschüssen zum NSU bislang allein Kriminaloberrat Felix Schwarz als Zeugen zur Verfügung gestellt. Und der trat seinen Dienst in der diesbezüglichen Mordkommission erst ab dem 1. Februar des Jahres 2006 an. Insofern konnte er bei seinen Befragungen im Berliner und Mecklenburger Untersuchungsausschuss für die Zeit der polizeilichen Ermittlungen in Hamburg in der Mordsache Taşköprü in den Jahren 2001 ‑2003 vieles allenfalls vom Hörensagen kolportieren.Grüne Schritte
Mitte April 2023 wurde der Antrag der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft auf die Einsetzung einen NSU-Untersuchungsausschusses abgelehnt. Bei Annahme hätte dieses Gremium in weniger als sechs Monaten seine Arbeit aufnehmen können. Von der Fraktion der Grünen war der Antrag der Linken trotz eines gegenläufigen Parteitagsbeschlusses nicht unterstützt worden. Gemeinsam mit der SPD nahm sie in der Bürgerschaft den Antrag an, nunmehr die „Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie“ durchzuführen.5 Das sei doch „ein großer Schritt in Richtung umfassenderer Aufklärung“, gaben sich die Grünen in einer Pressemitteilung damals überzeugt. Mehr noch: Die Grünen bezeichneten es als ganz „entscheidend (…), dass die Aufklärungsarbeit nun endlich und intensiv vorangetrieben wird.“ Eben dies „sollte der Fokus der Debatte sein und bleiben.“6 Wie wurde nun die Aufklärungsarbeit „intensiv vorangetrieben?“ Die Fortschritte sind schleppend: Nach jüngster Auskunft der Pressestelle der Hamburger Bürgerschaft gibt es inzwischen bei der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft einen Beirat, der zunächst nur damit beauftragt ist, ein Vergabeverfahren bis zum Ende das Jahres 2024 abzuschließen, „so dass mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Jahresbeginn 2025 begonnen werden kann. Ein Büro für den Beirat ist nicht eingerichtet, er tagt in den Sitzungsräumen der Bürgerschaft.“ (Mail an den Verfasser vom 18.6.2024) Somit darf zunächst einmal trocken festgestellt werden: Der von den Grünen Mitte April 2023 vor mehr als einem Jahr versprochene „große Schritt“ in Sachen „umfassender“ NSU-Aufklärung in Hamburg ist bislang unterblieben. Für die seit April 2023 als Alternative zu einem Untersuchungsausschuss angestrebte „wissenschaftliche Studie“ existiert auch am 23. Todestag von Süleyman Taşköprü noch nicht einmal eine Ausschreibung.Fußnoten
1 Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: (1123) Mordfall Özüdoğru — hier: Zusammenhang mit Mordfall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/257963
2 BT-Drs.17/14600 v. 22.8.2013, S. 835
3 Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) POL-MFR: (1705) Mord an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg — hier: Zusammenhang mit Mordfall in München, PM vom 5.9.2001, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/279915
4 Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: 2073. Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand: 9.11.2001 mit Bildveröffentlichungen Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/298764
5 FHHH Drs. 22/11561 v. 12.4.2023
6 Grüne Hamburg, NSU-Aufklärung: Umfassende Studie als wichtiger Schritt Richtung umfassenderer Aufklärung, PM vom 13.4.2023, URL: https://www.gruene-hamburg.de/nsu/
Zum Weiterlesen
Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, Der NSU-Komplex in Hamburg / Das Recht auf Aufklärung verjährt nicht, Hamburg 2023
Warum wurde der Mord an Mehmet Turgut als Teil der NSU-Mordserie lange unterschlagen?
Vor zwanzig Jahren
Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut in Rostock-Toitenwinkel in einem Dönerimbiss erschossen. Der oder die Täter*innen hatten den Stand kurz nach der Öffnung zwischen 10.10 Uhr und 10.20 Uhr durch die Seitentüre betreten, Turgut wahrscheinlich gezwungen sich auf den Boden zu legen und ihn hingerichtet. Der eigentliche Betreiber des Standes, Haydar A., hatte sich an diesem Morgen verspätet und fand seinen Mitarbeiter gegen 10.20 Uhr — noch lebend — im Imbissstand. Wiederbelebungsversuche scheiterten und die Kriminalpolizei in Rostock richtete eine erweiterte Mordkommission ein, die die Ermittlungen aufnahm. In den Tagen nach dem Mord informierten die Norddeutschen Neuesten Nachrichten (NNN) sowie die Rostocker-Zeitung die Öffentlichkeit: Die Rostocker-Zeitung veröffentlichte die Vermutung einer Bewohnerin, dass „soziale Konflikte im Stadtteil“ für die Gewalttat verantwortlich seien. (26.2.2004) Die NNN berichteten am Tag nach dem Mord, dass keine Einzelheiten zum Tathergang oder Motiv bekannt seien. (26.2.2004) Als Todesursache wurden jedoch Messerstiche oder Schläge vermutet. (Bild-Zeitung v. 26.2.2004 / Ostseezeitung v. 26.2.2004) Die Ausgabe der Bild-Zeitung Rostock schrieb drei Tage nach dem Mord davon, dass in Rostock-Toitenwinkel der „sympathische Typ (…) unweit der Post erstochen“ worden sei. (28.2.2004) Wahrscheinlich war den Ermittler*innen selbst nicht sofort klar, dass das Opfer erschossen worden war, da die Täter ihn zuerst gezwungen hatten sich hinzulegen, bevor sie ihn hinrichteten, so Rechtsanwalt Hardy Langer in seinem Plädoyer im NSU-Prozess vor dem OLG München im Dezember 2017, in dem er die Familie Turgut als Nebenkläger*innen vertrat. Drei Tage nach dem Mord veröffentlichte die lokale Presse ein Foto von Mehmet Turgut. (NNN v. 28.2.2004) Die Kripo Rostock suchte nach Hinweisen zur Identität des Opfers. Anscheinend war diese noch nicht geklärt. Eine Woche nach dem Mord wurde bestätigt, dass eine Obduktion durchgeführt worden war und tatsächlich ein Verbrechen vorlag. Der Zeitungstext erwähnte, dass „Einzelheiten dazu“ nicht mitgeteilt würden, aber nicht warum. (NNN v. 4.3.2004) Denkbar hier, dass die Formulierung darauf hindeutete, dass die Beamt*innen die Information zurückhielten, dass drei Projektile des Kalibers 7,65 mm und eine Patronenhülse gefunden worden waren. Ob sie bereits zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass es sich um eine Fortsetzung der Česká-Serie handelte, ist nicht belegt.Kein „ausländerfeindlicher Hintergrund“
Am 4. März 2004 schlug der Ermittlungsleiter in Rostock, Bernd Scharen, bei einer Besprechung, bei der es um die Weitergabe von Informationen an die türkische Presse ging, folgende Formulierung vor: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.“ (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern zum NSU (PUA MV), S. 569)1 Eben diese wurde dann vom Pressesprecher der Kriminalpolizeidirektion Rostock, Volker Werner, aufgegriffen, als dieser nach einem Gespräch eine Pressemitteilung (PM) in Form einer E‑Mail an Asgar Adeh, einen Korrespondenten der türkischen Zeitung Hürriyet, übersandte, mit der Bitte folgenden Text zu veröffentlichen: „Die Rostocker Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Aufklärung einer Straftat. In den Vormittagsstunden des 25. 02.2004 töteten unbekannte Täter in Rostock (…) in einem Döner-Imbiss den abgebildeten türkischen Staatsbürger TURGUT. Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen reiste TURGUT seit 1994 mehrfach illegal nach Deutschland ein und war hier mit Unterbrechungen in verschiedenen Orten aufhältig.“ (PM KPI Rostock v. 9.3.2004) Die Feststellung, dass „ein ausländerfeindlicher Hintergrund (…) derzeit ausgeschlossen werden“ könne, musste zu einem noch so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen mehr als verblüffen. Als der Einsatzleiter Scharen Ende Oktober 2013 in seiner Vernehmung vor dem OLG München darauf angesprochen wurde, berief er sich auf mündliche Besprechungen mit der Staatsanwaltschaft, dem LKA, dem Staatsschutz und – interessanterweise — dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV).2 Aus dieser Aussage geht hervor, dass diese Stellen unmittelbar in die Mordermittlungen miteinbezogen waren. Doch auch sie hatten nach zwei Wochen keine Erkenntnisse, die erlaubten, einen rassistischen Hintergrund in der Weise auszuschließen, wie es in der zitierten Pressemitteilung der Polizei Rostock geschehen war.Anschlagserie auf Asia- und Dönerbuden
Das spielte sich alles vor dem Hintergrund einer sich zeitgleich ereignenden nazistischen Anschlagsserie gegen die Asia- und Döner-Imbisse im Nachbarbundesland Brandenburg. Für die Zeit zwischen 2000 bis zum Februar 2004 wurden hier um die 50 Anschläge registriert.3 In fast allen Fällen, in denen Täter ermittelt werden konnten, handelte es sich um Angehörige der einschlägigen Naziszene. Exemplarisch hier die Gruppierung „Freikorps Havelland“, die in der Zeit zwischen August 2003 bis Mai 2004 wenigstens 10 Brandanschläge verübte, bevor die Polizei diese Gruppe fassen konnte. Im August 2004 — mitten in der Ermittlungen im Mordfall Turgut — wurde gegen die Gruppe durch den Brandenburger Generalstaatsanwalt, Erardo Rautenberg, unter dem Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.4 Ende November 2004 wurde dann unter diesem Vorwurf Anklage erhoben.5 Kurz vor Weihnachten berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift: „Anschläge auf Imbissbuden / Zwölf Neonazis in Brandenburg vor Gericht.“ (SZ v. 21.12.2004) Hier drängte sich der Zusammenhang zu Rostock förmlich auf, denn auch Mehmet Turgut war ja in einer Imbissbude ermordet worden. Doch für das Jahr 2004 ist für die in der Mordsache Turgut ermittelnden Sicherheitsbehörden nicht ein einziger Beleg auffindbar, in der die rassistische Anschlagwelle auf Imbissbuden im benachbarten Brandenburg in irgendeiner Weise rezipiert wurden. Überhaupt gab es bis zur Selbstenttarnung des NSU Anfang November 2011 in Bezug auf die Ermittlungen im Mordfall Turgut für die Polizei in Rostock nicht ein einziges Mal einen Grund, ein rassistisches Tatmotiv auch nur in Betracht zu ziehen. Exemplarisch dafür steht die Botschaft des Direktors des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern (LKA), Ingmar Weitemeier, in einem Presseartikel in der Schweriner Volkszeitung Mitte März 2007. Basierend auch auf seinen Aussagen hieß es hier unmissverständlich, zwar bereite den Ermittler*innen „vor allem das Motiv des Serienkillers“ immer noch Kopfzerbrechen. Allein: „Einen rechtsextremen und ausländerfeindlichen Hintergrund schließt die Polizei längst aus. Aus den Taten könne kein politisches Kapital geschlagen werden.“ (PUA MV S. 577) Diese Polizeiarbeit wurde in der Abschlussdiskussion zum Bericht des PUA Mitte Juni 2021 von dem Abgeordneten Peter Ritter dahingehend bilanziert, dass man „durch intensives Aktenstudium“ habe feststellen müssen, dass „den Betroffenen, dem Umfeld Mehmet Turguts, (…) nicht zugehört“ worden sei. Ritter weiter: „Ihnen wurde nicht geglaubt. In mindestens zehn Vernehmungen wurden die Beamten auf einen rassistischen Tathintergrund hingewiesen, das können wir aus den Akten nachvollziehen. Doch es passierte nichts. An keiner Stelle wurde nachgehakt. Stattdessen schloss ein leitender Ermittler eine Woche nach der Tat ein ausländerfeindliches Motiv öffentlich aus. Zudem wurden rassistische Vorfälle im Umfeld des Imbissstandes aus dem Jahr 1998 in den Ermittlungsarbeiten ignoriert.“6 (Siehe auch die Darstellung in: PUA MV S. 581/82)Der Mord von Rostock als Teil der Česká-Morde
Zwei Wochen nach dem Mord an Mehmet Turgut in Rostock, am 11. März, bestätigte das Bundeskriminalamt (BKA), dass die gleiche Česká verwendet worden war, wie bei den anderen vier Morden. Die Polizei wusste nun, dass die Mordserie fortgesetzt worden war. Der jüngste Mord davor war der an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München. Etwas über ein Jahr später, Anfang Oktober 2002, hatte das Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) die mit einer Česká-Pistole verübten „Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München“ erstmals als Serie publik gemacht. Hier stand die Mitteilung zu lesen, dass „aufgrund des zentralen Schusswaffenvergleichs beim Bundeskriminalamt Wiesbaden mit den am Tatort aufgefundenen Projektilen (…) zweifelsfrei fest[stehe], dass sowohl bei den Morden in Nürnberg sowie auch in München und Hamburg die gleiche Tatwaffe, eine Pistole vom Kal[iber] 7.65, verwendet worden ist.“ Kurz: Das war damals von den Ermittlern an die Presse weitergegeben worden. Genau das aber wurde in Rostock unterlassen. Evident hier: Von Seiten der Polizei, hier die beim Polizeipräsidium Mittelfranken angesiedelte „Soko Halbmond“, liefen die Ermittlungen zu dieser Serie seit jener letzten Presseerklärung von Anfang Oktober 2002 nur noch auf Sparflamme.7 Diese Situation wird an einer erhellenden Aussage des seit dem ersten Tötungsdelikt an Enver Şimşek ermittelnden Polizeibeamten Albert Vögeler aus Nürnberg vor dem Landtag in Mecklenburg-Vorpommern deutlich: „Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine mit der ganzen Serie beschäftigt beziehungsweise habe das mehr verwaltet. Große Ermittlungen kann man mit einem Mann nicht machen. Und deswegen war der Wunsch ans BKA, dass sie jetzt übernehmen sollten.“ (PUA MV, S. 229) Klarer als Vögeler das zum Ausdruck brachte – ich war „alleine mit der ganzen Serie beschäftigt“– kann man die am Boden liegende Polizeiarbeit zu der im Februar 2004 fortgesetzten Mordserie nicht bilanzieren. Nun waren die Mörder 30 Monate später zurückgekehrt und schlugen 670 Kilometer Luftlinie von München entfernt erneut zu, und setzten so die Mordserie fort.Was passierte nun?
Der Erste Polizeihauptkommissar (EHK), Ermittlungsleiter Scharen, erinnerte sich 15 Jahre später in seiner Aussage vor dem NSU-PUA MV daran, dass die Tatsache, dass es sich bei der Ermordung von Mehmet Turgut um eine Tat im Rahmen einer Mordserie gehandelt habe, seitens der Kriminalpolizei als ein „entscheidende[r] Wendepunkt“ im Ermittlungsverfahren angesehen worden sei, denn vorher habe man es als ein „normales Tötungsdelikt“ angesehen. „Bis dahin hätten sie gedacht, es sei eine Einzeltat, ab dann sei bekannt gewesen, es handle sich um eine bundesweite Tötungsserie, das LKA habe angerufen. Kurze Zeit später habe er einen Anruf des ehemaligen Leiters der Soko Halbmond, (Albert) Vögeler, bekommen. Die Soko Halbmond sei ja zu dem Zeitpunkt schon eingestellt gewesen, Vögeler habe die Möglichkeit gesehen, die Ermittlungen weiterzuführen.“8 Die in der Sache ermittelnde Staatsanwältin Kerstin Grimm wurde einen Tag später, am 12. März 2004 durch einen Anruf von EHK Scharen darüber informiert, dass die Tatwaffe identifiziert worden sei, und „diese Česká 83 bereits in vier weiteren Mordfällen in den Jahren von 2000 bis 2001 im gesamten Bundesgebiet verwandt worden“ sei. (PUA MV, S. 108) Als sie davon erfahren habe, dass der Mord an Turgut Teil einer bundesweiten Mordserie sei, „sei sie aus allen Wolken gefallen. Sie habe sich sofort mit Herrn Sch(aren) getroffen und das weitere Vorgehen abgestimmt. Dann sollte die ‚Soko Halbmond‘ ihre Arbeit wieder aufnehmen. (…) Am 17.03.2004 seien die Ermittler K. und Vögeler aus Bayern nach Rostock gekommen.“ Doch eben das, was sich für die Ermittler*innen in Rostock in ihrer Erinnerung als ein „entscheidender Wendepunkt“ darstellte, ein Hinweis bei dem die Staatsanwältin „aus allen Wolken“ gefallen sein will, wurde in der Folge nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben. Staatsanwältin Grimm erinnerte sich in ihrer Aussage dann noch daran, dass man besprochen habe, „dass es sinnvoll sei, wenn die Mordserie in die Hand einer einzigen Staatsanwaltschaft gelegt würde. Es sei an Bayern gedacht worden, es habe viele Indikationen für Organisierte Kriminalität gegeben, das ginge nicht dezentral. Das sei aber abgelehnt worden.“ Als Begründung habe man ausgeführt, „dass es keinen Sachzusammenhang gäbe, das könne man sehr wohl regional machen“, habe es geheißen, wobei sie „die Ablehnung der Übernahme durch die Staatsanwaltschaft Fürth (die zu diesem Zeitpunkt in den vorangegangen vier Mordfällen Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü und Kılıç ermittelte) sehr verwundert“ habe.9 Langer Rede kurzer Sinn: Es sollte bis zum sechsten Mord an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürnberg dauern, bis die bundesweite Öffentlichkeit vom Mord an Mehmet Turgut als Teil der Mordserie erfuhr. Nachdem die Nürnberger Nachrichten über den Mord an Yaşar zunächst als fünftem der Serie berichtet hatten, informierte die Polizei die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung über den, wie es hieß, „Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten.“ Darin stand zu lesen: „Seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT (25) am Vormittag des 25.02.2004 in Rostock zu dieser Serie gezählt werden. T. war Verkäufer in einem Dönerstand. Auch hier besteht Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Waffe.“10 Richtig gelesen: Durch die Mitte Juni 2005 wahrheitswidrig in Anschlag gebrachte Formulierung „seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT“ hat sich der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken einfach eines rhetorischen Tricks bedient: Es ist absurd einen zeitlichen Abstand von 16. Monaten in die Formulierung „… vor kurzem“ zusammen zu kürzen. Hier geht es darum, zu kaschieren, dass eben dieser Mord als Teil einer seit dem September 2000 in der Bundesrepublik anhaltenden Mordserie war, der von der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit für 16 Monate unterschlagen worden war. Von dem „Netzwerk von Kameraden“, als der sich der NSU selbst bezeichnete, wurde das nicht vergessen. Als das Mitglied des Kerntrios des NSU, Beate Zschäpe, nach der Selbstenttarnung und Selbstmord der beiden anderen Mörder Anfang November 2011 das sogenannte „Paulchen-Panther“-Bekennervideo verbreitete, wurden bis auf Mehmet Turgut zu allen Mordopfern Fotos und auf den jeweiligen Mordanschlag bezogene faksimilierte Presseartikel dokumentiert. Doch eben dieser Mord tauchte in der Presse für 16 Monate gar nicht und auch danach niemals prominent als Teil der Serie auf. Nebenklageanwalt Hardy Langer führte hier aus, wie sich die Mörder dann behalfen: „Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Česká-Mordtaten – ist das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder wurden solche in der Frühlingsstraße 26 (in Zwickau) gefunden, noch sind solche im sog. Bekennervideo verarbeitet. (…). Die dort im Video in der Schlußfassung (….) unter der sog. ‚Deutschlandtour‘ zum fünften Mord neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift ‚Rätsel um Morde‘ entstammt – offenbar in Ermangelung einer ‚passenden‘ Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der ‚Nürnberger Nachrichten‘ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern (… Der Untertitel: ‚Bereits vier Bluttaten bekannt‘ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort ‚Bluttaten‘ sichtbar ist.).“Kein Thema im Bundeskanzleramt?
Mit dem Ende Februar 2004 in Rostock verübten fünften Mord der Česká-Serie forderte eine Bande die Institutionen des Sicherheitsapparats heraus. Schwer vorstellbar, dass hier bei den Verantwortlichen nicht alle Warnlampen angegangen sein sollen: „Das musste auffallen“, mutmaßte der in den Jahren 1973 bis 1982 als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt tätige Sozialdemokrat Albrecht Müller kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Basierend auf seinen Arbeitserfahrungen in der werktäglichen Lagebesprechung zur inneren Sicherheit im Land, wies Müller drauf hin, dass es „nicht vorstellbar“ sei, dass der Kreis der zehn bis 15 Teilnehmer*innen der Lagebesprechung, zu denen u.a. der Chef des Bundeskanzleramts und der Regierungssprecher gehören, „nicht spätestens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. Das musste auffallen.“11 Was aber nun wirklich die Gründe dafür sind, dass die Sicherheitsbehörden nicht spätestens ab Mitte März 2004 angefangen haben, zu der anhaltenden Mordserie in aller Öffentlichkeit Alarm zu schlagen – sprich: die Öffentlichkeit mit umfassenden Informationen über den Stand der Dinge, etwa die Übernahme der Ermittlungen durch das BKA und den Generalbundesanwalt, zu versorgen – ist bis heute unbekannt. Weder in den PUAs im Bundestag ( NSU-PUA I 2014) noch in Schwerin (PUA MV 2021), auch nicht in dem zwischen 2013–2018 vor dem OLG in München durchgeführten Strafverfahren wurden die betreffenden Zeug*innen aus dem Sicherheitsapparat danach gefragt.Erinnern an den Tod von Mehmet Turgut
Die Stadt Rostock hat am 25. Februar 2014 unter anderem im Beisein der Brüder des Ermordeten, Mustafa und Yunus Turgut, des Oberbürgermeisters Roland Methling, des Botschafters der Republik Türkei in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, sowie der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Prof. Barbara John, am Neudierkower Weg eine Gedenkplatte für Mehmet Turgut eingeweiht, der, so die Inschrift, „einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel“12 Der explizite Hinweis auf die Mordserie steht bislang einzig in den Mahnmalen für die Opfer des NSU quer durch die ganze Bundesrepublik. Doch ausgerechnet hier ist das aus der oben dargelegten Beschreibung unpräzise vermerkt: Denn gegenüber der Öffentlichkeit existierte für die Polizei in der Zeit zwischen dem 11. März 2004 bis zum 10. Juni 2005 die Ermordung von Mehmet Tugut gar nicht als Teil einer Mordserie. Und das obwohl sie es besser wusste. Auch an diese verdeckte Polizeipraxis soll bei dem nunmehr anstehenden 20. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Turgut erinnert werden.Fußnoten
1 LT Mecklenburg-Vorpommern, Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. PUA zur Aufklärung der NSU-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern, Drs 7/6211 vom 2.6.2021, URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Drucksachen/7_Wahlperiode/D07-6000/Drs07-6211.pdf
2 NSU Watch, Zeuge Bernd Scharen, OLG München 49. VHT vom 23.10.2013. URL: https://www.nsu-watch.info/2013/10/protokoll-49-verhandlungstag-23-oktober-2013/
3 Opferperspektive Brandenburg, Rassistische Anschläge gegen Imbisse 2000–2004 (Dokumentation Februar 2005). URL: https://www.opferperspektive.de/aktuelles/rassistische-anschlaege-gegen-imbisse-2000–2004
4 M, Neonazis unter Terrorverdacht / Der Brandenburger Generalstaatsanwalt ermittelt gegen eine Jugendgruppe, die von Ausländern betriebene Imbisse angezündet hat. Der Verdacht: Bildung einer terroristischen Vereinigung, in: taz vom 20.8.2004, S. 1. URL: https://taz.de/Neonazis-unter-Terrorverdacht/!710032/
5 Daniel Schulz, Rechter Terror mit Schriftführer und Kassierer / Westlich von Berlin wollte eine Gruppe Jugendlicher durch regelmäßige Brandanschläge sämtliche Ausländer aus ihrer Stadt vertreiben. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung erhoben, in: taz vom 25.11.2004, URL: https://taz.de/Rechter-Terror-mit-Schriftfuehrer-und-Kassierer/!669766/
6 Plenarprotokoll Landtag MV 7/124 v. 9.6.2021, S. 106, URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Plenarprotokolle/7_Wahlperiode/PlPr07-0124.pdf
7 POL-MFR: (1872) Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand 08.10.2002 mit Bildveröffentlichungen, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/387608
8 nsu-watch, Zeuge Bernd Scharen, Erster Polizeihauptkommissar a.D. ‚(…) NSU-UA Mecklenburg-Vorpommern am 29.11.2019, URL: https://www.nsu-watch.info/2019/12/also-ich-brauche-mich-fuer-gar-nichts-entschuldigen-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-29–11-2019/
10 POL-MFR (847), Dönerstandbesitzer am 09.06.2005 in Nürnberg erschossen hier: Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten und Fahndungsaufruf. Pressestelle vom 10.6.2005. URL: https://www.presseportal.de/ blaulicht/pm/6013/689016; zu dieser Zeit galt als Vorname es Ermordeten noch der Vorname seines Bruders Yunus
11 Albrecht Müller, Ich glaube nichts von dem, was uns die politisch Verantwortlichen über die Bekämpfung des Rechtsterrorismus erzählen, auf: nachdenkseiten.de vom 22.11.2011, URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11383
12 Stadt Rostock, Tafeln am Gedenkort für Mehmet Turgut mit Inschriften in deutscher und türkischer Sprache, PM vom 21.2.2014, URL:https://rathaus.rostock.de/de/tafeln_am_gedenkort_f_uuml_r_mehmet_turgut_mit_inschriften_in_deutscher_und_t_uuml_rkischer_sprache/283156
2023
Die Polizei, der Verfassungsschützer und die Nazis
Die Grafiken von Günter Wangerin
Der Beitrag „Neue Erkenntnisse … .“ erschien zuerst am 11.11.2023 auf dem Blog der Rosa Luxemburg Stifung antifra* Debatte, Bildung, Vernetzung zu Migration und gegen Rassismus und Neonazismus. Für die redaktionelle Unterstützung bedanken wir uns bei Fritz Burschel. Unser Dank geht auch an Günther Wangerin für das zur Verfügung stellen der Zeichnungen.
Der Hauptverdächtige im Kasseler Mordfall: der hessische „Verfassungsschützer“ Andreas Temme – Alle Bilder in diesem Beitrag stammen aus dem Bildband von Günter Wangerin Kunst in Zeiten der Barbarei (Verlag Das Freie Buch München 2023), in dem auch seine trefflichen Gerichtszeichnungen aus dem NSU-Prozess stammen. Wir danken Günther Wangerin für die Erlaubnis, die Bilder hier benutzen zu dürfen.
Die polizeilichen Ermittlungen in den Mordfällen Kubaşık und Yozgat im Frühjahr / Sommer 2006
Von Daniel Roth und Markus Mohr Auch wenn der NSU-Komplex heute in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es bis heute offene Fragen. Sie führen uns schnell in ein Labyrinth, in dem immer wieder Verbindungen zwischen dem Sicherheitsapparat und der Neonaziszene aufscheinen, die sich dann aber als scheinbar zufällig vor unseren Augen wieder auflösen. Eine der stärksten Verbindungen dieser Art ist das Auftauchen des Kasseler Verfassungsschützers Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort des 9. Mordes der sog. NSU-Mordserie, der im Laufe von 6 Jahre 10 Menschen zum Opfer fielen. Der 22-Jährige Halit Yozgat war am 6. April 2006 in seinem Internet-Café in Kassel ermordet worden. 55 Stunden zuvor, am 4. April 2006, war mit derselben Waffe, die bereits in sieben anderen Mordfällen verwendet worden war, in Dortmund Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen worden. Temme verließ seinen Dienstsitz beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz, fuhr direkt zum Tatort, betrat das gut besuchte Internet-Café und verließ es 10 Minuten später – in der Minute, in der der Mord begangen wurde – wieder. Es gibt bis heute keine Hinweise auf andere Täter. Einer der Gründe, warum sich die Aufmerksamkeit von der offensichtlichen Verbindung des Verfassungsschützers zur Mordserie abgewandt hat, liegt darin, dass die Česká-Mordserie, eine der größten Mordserien der Nachkriegsgeschichte, bei der von 2000 bis 2006 neun Morde – in der Sprache der Polizei „zum Nachteil von Migranten“ – verübt worden waren, als aufgeklärt gilt. In einem Mammutprozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München wurden mit Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe im Wesentlichen drei Täter*innen aus dem von Westdeutschland weit entfernten finsteren Osten für die Tat haftbar gemacht. Diese sollen – sozial wie politisch isoliert agierend – die Mordserie alleine verübt haben. Auch für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007 war nach Ansicht des Gerichts allein „das Trio“ verantwortlich. Aufgrund mangelnder Belege für eine konkrete Tatbeteiligung wird auch das Selbstenttarnungsvideo des NSU von 2011 als Indiz herangezogen. So findet sich in dem Urteil des Staatsschutzsenats in München der Hinweis, dass es doch der NSU selbst sei, der „in dem Video ‚Paulchen Panther‘ (…) glaubhaft“ eingeräumt habe, „Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat getötet zu haben.“ 1Der Kasseler Mord vom 6. April 2006
Um unsere These zu erläutern, müssen wir uns über 15 Jahre zurück begeben, zum 8. und 9. Mord der Serie am 4. und 6. April 2006. Mit diesen beiden Serientaten im Vorfeld der Fußball-WM in Deutschland bekamen die Serienkiller nun endgültig bundesweite Aufmerksamkeit in der Presse. Während die Öffentlichkeit jedoch mit völlig haltlosen alten, längst verworfenen Ermittlungsansätzen zu einer angeblich international operierenden „Drogenmafia“ versorgt wurde, vollzogen die Ermittler*innen eine 180-Grad-Wende. Der Grund: In Kassel war es der Mordkommission „MK Café“ gelungen, einen Mann zu finden, gegen den „der dringende Verdacht des Mordes“ bestand. Der Mann hatte sich zum Tatzeitpunkt der Ermordung von Halit Yozgat im Internet-Café in der Holländischen Straße aufgehalten und sich trotz mehrerer Zeugenaufrufe nicht bei der Polizei gemeldet. Als der Mann am 21.April 2006 festgenommen werden soll, stellte sich heraus, dass es ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutzes Hessen (LfV) war. Sein Name: Andreas Temme. Bei der Durchsuchung von Diensträumen und Wohnung finden die Polizeibeamten das Diensthandy, Haschisch und ein Notizbuch. Sie finden auch tatrelevante Bücher, darunter: „Immer wieder töten – Serienmörder und das Erstellen von Täterprofilen“. Dazu kommt spezielle Literatur über den Nationalsozialismus, etwa der „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS“, „Wille und Weg des Nationalsozialismus“ und „Das wirtschaftliche Sofortprogramm der NSDAP 1932“. Daneben Zeichenhefte, in die sorgfältig die Orden des Dritten Reichs gemalt sind. Außerdem stellt die Kripo Auszüge von Hitlers „Mein Kampf“ sicher.7 Temme hatte erhebliche Mengen an Munition und Waffen in seinen Wohnräumen, er war ausgebildeter Sportschütze mit einem Waffenschein. Mit Temme war die Polizei auf den ersten Tatverdächtigen in der Mordserie an neun Migranten gestoßen. Mehr noch: Auf jemanden, bei dem klare Nazi-Bezüge dokumentierbar waren, und der zudem noch als Bediensteter und V-Mann-Führer eines LfV selbst gewalttätige Nazis verwaltete. Mittels Telefonüberwachung stellte sich schnell heraus, dass Temmes Ehefrau über Täterwissen verfügte und sich über den Mord in rassistischer Weise lustig machte.8Der Mord in Dortmund vom 4. April 2006 und die bisherigen Morde der Serie
Unmittelbar nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund am 4. April 2006 meldete sich die Zeugin Jelica Demian (Name verfremdet) bei der Polizei. Ihr waren zur Tatzeit in der Nähe des Kiosks, in dem Kubaşık ermordet worden war, zwei Basecap tragende Männer, von denen einer ein Fahrrad schon, entgegen gekommen, denen sie direkt ins Gesicht geblickt habe. Am nächsten Tag beschrieb sie diese in ihrer ersten Zeugenaussage vor zwei Beamten des polizeilichen Staatsschutzes als „Junkies oder Nazis“. Das wurde zwar in dem von den Staatsschutzbeamten gefertigten Vernehmungsprotokoll weggelassen (Stärkere Strahlkraft, S. 174ff), fand aber indirekt Eingang in die erste öffentliche Stellungnahme des ermittelnden Dortmunder Staatsanwaltes Heiko Artkämper. Gegenüber der Presse erwähnte er – ohne dabei schon von dem Mord in Kassel zu wissen – erstmals seit Beginn der Mordserie an nunmehr acht Migranten einen „rechtsradikalen Hintergrund“ als mögliches Motiv mit.9 Die Polizei hatte bis zum Frühjahr 2006 wenig konkretes in der Mordserie ermitteln können. Bei zwei Morden (1. und 3. Mord in Nürnberg bzw. Hamburg) waren zwei Waffen verwendet worden, beim 6. Mord in Nürnberg 2005 hatten zahlreiche glaubwürdige Zeugen zwei Fahrradfahrer vor, während und nach der Tat gesehen. Fahrradfahrer waren bereits beim ersten Mord in Nürnberg und beim 4. Mord in München gesehen worden. Mit der Dortmunder Augenzeugin verdichtete sich das Täterprofil, denn alle Zeugen hatten die beiden Fahrradfahrer gleich beschrieben: Zwischen 20 und 30 Jahre, schlank, nicht dunkelhäutig, über 1,80 Meter groß, Basecap, kurze Haare und – so die Dortmunder Zeugin – vom Typ her wie Nazis (oder Junkies: was immer diese Gleichsetzung zu bedeuten hat).Ein neuer Ermittlungsansatz – Temmes Hintermänner aus der Naziszene
Die hauptsächlich ermittelnden Mordkommissionen in Kassel (MK Café), Dortmund (MK Kiosk) und die mit der Mordserie bereits befasste „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Bosporus aus Nürnberg wählten nun – so unsere Hypothese – einen neuen Ermittlungsansatz. Der lange Jahre in der Mordserie ermittelnde Kriminalpolizist Werner Störzer formulierte das einmal indirekt so, dass es die Festnahme des ersten Tatverdächtigen in der Mordserie gewesen sei, die für die Polizei einen „Quantensprung“ in ihren weiteren Ermittlungen ausgelöst habe. (PUA Bayern, S. 107) Überzeugt davon, über Temme, der aus Sicht der Ermittler an der Tat beteiligt war, an weitere Hintermänner zu gelangen, suchte man jetzt konkret nach jüngeren Nazis aus Temmes Umfeld. Der dringend tatverdächtige Temme war 2006 bereits 40 und damit eher zu alt, um auf die Täterbeschreibungen der Mörder zu passen. Temme passte eher zu einer Beobachtung beim 2. Mord an Abdurrahim Özüdoğru im Juni 2001 in Nürnberg. Allerdings war der damals per Phantombild gesuchte Mann nicht direkt zur Tatzeit gesehen worden. Die Ermittlungen konzentrierten sich also darauf – am besten zwei – jüngere Tatverdächtige zu finden, auf die 1. die Beschreibungen der Zeug*innen zutraf und die 2. im Kontakt mit Temme standen. Dem ermittelnden Staatsanwalt Götz Wied ging es darum, „Erkenntnisse über Kontakte des Beschuldigten zu Personen zu gewinnen, die möglicherweise als Hintermänner der Tat in Frage kommen.“ (PUA Hessen, Linke, S. 74) Die Konzentration auf konkrete Tatverdächtige in Temmes Umfeld kann ein Grund dafür gewesen sein, dass man in Dortmund gar nicht mehr nach Tatverdächtigen fahndete. Dort gab es, soweit ersichtlich, weder eine Weitergabe der Aussage der oben zitierten Augenzeugin, noch einen Hinweis auf Fahrradfahrer und auch kein Phantombild für die Öffentlichkeitsfahndung. (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff)Konflikte zwischen den Mordkommissionen und dem Verfassungsschutz
Für die Polizeibeamt*innen zeichnete sich ab, dass Temme zum Zeitpunkt der Tat im Internet-Café mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen dienstlichen Einsatz für seine Behörde absolviert hatte. Im Zuge der Ermittlungen gegen Temme und seine Hintermänner kam es zu Konflikten der Polizeibehörden mit dem LfV Hessen. Diese sind inzwischen teilweise dokumentiert. Der engagierten Recherche der Rechtsanwälte von Ismael Yozgat Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach, während des Strafprozess des OLG München verdanken wir die Kenntnis einiger Abhörprotokolle der fraglichen Telefongespräche. Aus ihnen geht hervor, dass das Amt versuchte, Temme wieder in den Dienst einzugliedern, und sich gegenüber den Mordermittler*innen unkooperativ zeigte. Der von der Staatsanwaltschaft geplante Haftbefehl gegen Temme – der gleich in seiner ersten Befragung gelogen hatte und so für die Polizei unglaubwürdig war – wurde nicht realisiert, schließlich sei gar „kein Haftbefehlsantrag“ gestellt worden, so der zuständige Staatsanwalt Götz Wied Jahre später vor dem 2. PUA des Bundestages.10 Der SPIEGEL sollte den Vorfall drei Monate später als „ politische Katastrophe mit kaum absehbaren internationalen Folgen“ bezeichnen. Die Ermittler*innen soll „statt Freude über den Erfolg“ der Festnahme von Temme, so die Formulierung, darüber „blankes Entsetzen“ ergriffen haben.11 Wenn es so stimmt, wie es überliefert ist, dann war dieses Entsetzen der Polizei völlig berechtigt: Denn damit war den Ermittler*innen auch deutlich geworden, dass sich die weiteren Ermittlungen in dieser Causa zwangsläufig gegen das hessische Innenministerium würden zu richten haben. Das LfV Hessen war – was sich schnell zeigte – nicht sonderlich daran interessiert bei der Aufklärung der Mordserie mitzuwirken. Mit schnellen Entwicklungen bei den Vernehmungen im Umfeld des Tatverdächtigen war also nicht zu rechnen. Die „MK Café“ war hingegen an einer möglichst schnellen Aufklärung der Mordserie gelegen und so beschritt sie eine nachvollziehbare Doppelstrategie.Temmes Quellen als mutmaßliche Tatbeteiligte
Bei der Durchsuchung von Temmes Unterlagen hatte die Polizei seine Quellen enttarnt und kannte somit seine V-Leute, auch die aus der Kasseler Naziszene: „Zwischenzeitlich war es den Ermittlern gelungen, anhand der bei Temme beschlagnahmten Unterlagen die Klarnamen der von ihm geführten VM [Vertrauensmänner] zu ermitteln.“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Aus zahlreichen Akten, die vom Hessischen PUA eingesehen werden konnten, geht hervor, dass über offizielle Kanäle versucht worden ist, alle V-Leute von Temme zu befragen. Es gab, berechtigterweise, kein Vertrauen der Ermittelnden zum LfV. Andererseits waren die Nazis um Temme wichtige Tatverdächtige und als solche die bisher beste Spur. Es ist eine offene Frage, warum die Ermittlenden, wie es Clemens Binninger einmal im ersten NSU-PUA im Bundestag ausrief, damals nicht direkt auf die Zeugen oder mutmaßlichen Tatbeteiligten zugegangen waren Es sei ja schließlich um nichts geringeres als um die Aufklärung einer Mordserie gegangen. Da die Polizei ein Interesse daran hatte sich vom LfV in die Karten schauen zu lassen, gibt es Gründe davon auszugehen, dass die Polizei bei manchen Ermittlungsschritten sehr vorsichtig war, was deren Dokumentation angeht. Vielleicht sind die Beamt*innen ja viel direkter auf die Tatverdächtigen zugegangen als heute bekannt ist. Im PUA Hessen ist dazu vermerkt: „Die StA [Staatsanwaltschaft] erwog zunächst, die Quellen ohne Einverständnis des LfV zur Vernehmung abzuholen, entschied sich dann aber dagegen“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Interessanterweise wird die Staatsanwaltschaft erwähnt, obwohl doch die Polizei für Vernehmungen zuständig gewesen wäre. Auch die Wortwahl „abzuholen“ fällt hier auf, man hatte also auch die Adressen dieser Leute.Ein erster Treffer – ein Neonazi, der zu den Täterbeschreibungen aus den ersten acht Morden passt.
Auch wenn im Dunkeln bleibt, wie die Ermittelnden genau an Temmes Umfeld herankamen, so ist uns doch bekannt, dass sie einen von Temmes V-Leuten, einen Benjamin Gärtner, ausfindig machen konnten. Gärtner war in der Kasseler Neonaziszene aktiv. Sein Halbbruder galt als der Anführer der „Kameradschaft Kassel“. Gärtner hatte Zugang zu wichtigen Neonazi-Anführern in Nordhessen, die auch enge Kontakte nach Dortmund pflegten. (PUA BT II, S. 888) Gärtner war 2006 ca. 22 Jahre alt und „hochgewachsen“12Neues Profiling – Suche nach zwei Nazitätern
Während die konkreten Ermittlungen in der Kasseler Naziszene stattfanden, kam Bewegung in die bundesweiten Ermittlungen, die aus Nürnberg koordiniert wurden. Plötzlich wurden wichtige Zeuginnen befragt, ein neues Profiling verfasst und ein Zusammenhang der Mordserie zum Nagelbombenanschlag in Köln wieder ausgegraben. Die Beamt*innen schienen sich recht sicher gewesen zu sein, dass sie kurz vor einem Fahndungserfolg standen, bei dem sie der Öffentlichkeit Neonazis als Tatverdächtige würden präsentieren können. Wenige Tage nachdem die Ermittlungen gegen Temme aufgenommen worden waren, man auch ein neues Profiling, unter der Fachbezeichnung Operative Fallanalyse (OFA), in Auftrag. Ziel: Eine gut ausgeführte Begründung dafür vorzulegen, warum ein Richtungswechsel in den weiteren Ermittlungen in der Mordserie angezeigt sei: Weg von der jahrelang ergebnislos verfolgten These der Organisierten Kriminalität (OK), hin zur Verfolgung einer gut organisierten und bundesweit operierenden Nazi-Gruppe. Das Profiling wurde in einer Rekordzeit von lediglich zwei Wochen von dem Fallanalytiker des LKA Bayern, Alexander Horn zusammen mit vier weiteren Kolleg*innen fertig gestellt. Das Profiling kam zu dem Ergebnis, dass es sich wahrscheinlich um zwei Täter handeln müsse. Für einen Mittäter sprächen laut OFA vor allem die Zeug*innenaussagen im Fall des Mordes an İsmail Yaşar in Nürnberg im Juni 2005, bei dem die beiden Täter mit den Fahrrädern ja von vielen Zeug*innen gesehen worden waren, und die Verwendung von zwei Waffen bei den Morden an Enver Şimşek im September 2000 in Nürnberg und Süleyman Taşköprü in Hamburg im Juni 2001. Die Fallanalyse bezog alle empirischen Befunde in die Analyse mit ein (dieselbe Waffe, Tat am Tage ausgeführt, Opfer kannten einander nicht, Opfer waren aus Sicht des Täters austauschbar). Es entstand ein Täterprofil, das von einem oder zwei Tätern ausging, die bis zum Jahr 2000 eine Nähe zur rechten Szene gehabt, eine ausländerfeindliche Gesinnung besessen und die größte ethnische Minderheit in Deutschland, Türk*innen, gehasst hätten. Alexander Horn sagte bei der Vorstellung vor der „BAO Bosporus“ in Nürnberg am 9. Mai 2006: „Wenn es zwei Täter sind, wofür ja sehr vieles spricht, verbindet sie eine starke Dynamik. Sie inszenieren ihre Taten wie ein Abenteuer, wie eine militärische Kommandoaktion eben. Sie sind entweder Brüder – oder Brüder im Geiste.“ Das Profiling forderte die nochmalige Untersuchung des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße. Als Parallele zu den Mordtaten wurde hier gesehen: „Anschlag mit Nagelbombe in Straße mit eindeutig erkennbarem Schwerpunkt türkischer Geschäfte – Ermittlungen konnten bisher weder OK-Hintergrund, noch sonstiges Motiv erhellen; – Tatbegehung durch zwei Männer mit Fahrrädern; Tatbegehung als „Kommandoaktion“.(PUA BT I, S. 578) Der später eng mit Horn für die Buchpublikation ‚Profiler auf der Spur von Serientätern‘ zusammen arbeitende Journalist der Süddeutschen Joachim Käppner sollte hier in Bezug auf den Bombenanschlag in der Keupstrasse darauf verweisen, dass dieser „viele Parallelen zu den neun Morden auf(weise). Etwa die Männer mit den Fahrrädern, wie die beiden, von denen bei den Česká -Morden mehrfach berichtet wurde. Wie bei diesen geschah der Anschlag in einem Viertel mit hohem Ausländeranteil; das Motiv, (…) scheint dasselbe zu sein: Zerstörungsdrang, Hass“. (J. Käppner, S. 277) Als Ermittlungsansätze empfahl die OFA u.a., dass man nach Personen mit Waffen- oder Sprengstoffaffinität suchen solle, die der Naziszene nahestanden. Auch Ermittlungen in den lokalen Naziszenen von Dortmund und Kassel werden in der OFA angeregt. Liest man dieses Profiling durch, so beschreiben Teile davon den tatverdächtigen Verfassungsschützer Andreas Temme. Er wird darin ohne Namensnennung indirekt als „Person mit Tüte“ benannt. Bevor die Ermittelnden die Identität von Temme feststellen konnten, wurde nach ihm seinerzeit bereits gefahndet. Mehrere Zeug*innen hatten berichtet, dass diese Person eine auffällige Supermarkt-Plastiktüte getragen habe, die oben zugemacht worden war und in der sich etwas eckiges befand. Bemerkenswert an diesem Profiling war auch die Ansage, nunmehr den Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße in Köln vom Juni 2004 in die Ermittlungen zu der Mordserie an den Migranten einzubeziehen. Eben das war noch ein Jahr zuvor bei der Gründung der „BAO Bosporus“ gegen die auch presseöffentlich ausgesprochenen Anregungen der Kriminalpolizei in Köln von den Verantwortlichen in Nürnberg verworfen worden. Die Gründung der „BAO Bosporus“ war ganz unmittelbar und direkt mit dem Ende der Spur nach Köln verbunden. Der Sprecher des Polizeipräsidiums Nürnberg Kiminalrat Peter Grösch hatte damals in der Nürnberger Zeitung Ende Juni 2005 apodiktisch erklärt: „Eine von den Medien ins Spiel gebrachte Verbindung zwischen der Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat vor einem Jahr in Köln besteht jedoch nicht. (…) Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Verbrechen in Köln und den sieben Morden an den Kleinunternehmern.“13Ein weiterer Treffer – ein Neonazi, der zu den Täterbeschreibungen passt und Kontakt zum Mordopfer hatte.
In Kassel und Dortmund führten die Ermittlungen im Juni 2006 zu einem weiteren Treffer, der unseres Erachtens bis heute überhaupt nicht klar erfasst worden ist. Am Freitag, den 9. Juni, legen die Ermittler in Dortmund der Zeugin Jelica Demian* ein Lichtbild von Andreas Temme vor. Dabei konnte sie ihn nicht als einen der Täter identifizieren, die sie gesehen hatte. Temme war offensichtlich zu alt. Ob der Zeugin ein Lichtbild von Gärtner vorgelegt wurde, ist nicht bekannt, wohl aber denkbar. Drei Tage später, am Montag, 12. Juni, luden die in Kassel Ermittelnden Markus Hartmann zur Vernehmung auf das Kasseler Polizeipräsidium vor. Hartmann war der Polizei als Neonazi bekannt, er hatte zuletzt Anfang 2006 in einer Kneipe einen Hitlergruß gezeigt. Die Abteilung Staatsschutz der Polizei war in Kassel und Umgebung für die politisch motivierten Straftaten im Bereich Rechtsextremismus zuständig. Sie ermittelte deshalb zum Beispiel bei Delikten wie dem Zeigen des Hitlergrußes oder anderweitigem Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen (§86a StGB). (PUA Lueb, S. 47) Erst kurz vor dem Mord an Hailt Yozgat, im März 2006, hatte das LfV Hessen eine Personenermittlung zu Hartmann angestrengt. Dabei wollte man „die vollständigen Personendaten, sowie ein Lichtbild und Polizeiliche Erkenntnisse“ ermitteln. (PUA Lueb, SPD, FDP, S. 256) Das bedeutete aber wiederum, dass der Polizei bekannt war, dass Hartmann für das LfV von Interesse war. Inwieweit Andreas Temme an der Beschaffung der Informationen zu Hartmann beteiligt war, ist nicht bekannt. Denkbar ist, dass sich Hartmanns Name in dem Notizbuch befand, welches die Polizei bei Temme sichergestellt hatte. Die SPD und FDP-Landtagsfraktionen in Hessen haben nun im Untersuchungsauschussbericht zur Ermordung von Walter Lübcke die Vernehmung von Hartmann ausführlicher dargestellt. Hartmann sei durch seinen Freund Nazif Kasan* auf den Mord an Halit Yozgat aufmerksam gemacht worden. Kasan* sei mit der Familie Yozgat verschwägert. Hartmann erzählte den vernehmenden Beamt*innen, dass er auf einer BKA-Webseite nach einem Foto des Verstorbenen gesucht habe, da er diesen ja wahrscheinlich gekannt habe. Einmal habe er Halit Yozgat direkt getroffen, und zwar „an der Imbissbude der Familie K., direkt an dem Wohnhaus, xxx1021, […] und dadurch auch ganz kurz kennen gelernt.“ Hartmann wurde noch kurz zu seinem Alibi am Tag der Ermordung von Halit Yozgat befragt und dann aus der Vernehmung entlassen. In seiner Vernehmung durch den hessischen Untersuchungsausschuss gab Hartmann Mitte Dezember 2022 noch an, vor der Vernehmung von dem Polizeibeamten im Treppenhaus „auf die Sache mit der Verurteilung wegen des Hitlergrußes angesprochen“ worden zu sein. (PUA Lueb, SPD/FDP, S. 308–12) Hartmann, Jahrgang 1976, war zu Beginn der Mordserie Mitte zwanzig und ohne Weiteres zu den Zeug*innenaussagen über die beiden Fahrradfahrer aus Köln und Nürnberg gepasst. Auf ihn traf auch das in dem Profiling (OFA Horn) angesprochene Merkmal wie Sprengstoffaffinität zu. Hartmann war am 7. April 2005, also fast genau ein Jahr vor dem Mord, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 34 der „Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz“ ausgestellt worden, mit der er an einem Sprengstofflehrgang teilnehmen konnte. Er war offensichtlich in der Kasseler Naziszene aktiv, der 2006 etwa 30 Personen angehört haben sollen. Mit Benjamin Gärtner wird er wohl schon deshalb bekannt gewesen sein. Im Lübcke-PUA wird mehrfach erwähnt, dass die Meldeadressen der beiden nahe zueinander gelegen haben sollen. Der wichtigste Punkt jedoch war einer, der für die Ermittelnden in der ganzen Mordserie immer eine extreme Bedeutung hatte: Hartmann kannte das Mordopfer. Allein diese Beziehung musste als Spur gewertet werden. Während Hartmann in Kassel verhört wurde, war am gleichen Tag in Dortmund auch die Augenzeugin vorgeladen, um ein Phantombild des Fahrradfahrers mit Basecap anzufertigen. Da in Dortmund im Zuge der Ermittlungen in Kassel alle Hinweise auf die dortigen Tatverdächtigen (Fahrräder, Bezeichnung als Nazis, Personenbeschreibungen) der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff), gab es keinen nachvollziehbaren Grund, zwei Monate nach der Tat plötzlich ein Phantombild anfertigen zu lassen. Es ist, soweit wir das wissen, 2006 auch nicht an die Presse weitergegeben worden. Es diente wohl eher dazu, bei den Ermittlungen in der Kasseler Naziszene mit einer Bildvorlage arbeiten zu können. Ob der Dortmunder Zeugin, die in der gleichen Woche nochmals einbestellt wurde, ein Foto von Hartmann gezeigt worden ist, ist nicht bekannt.Vernehmung von Temme wird vorbereitet
Mit Temme, Gärtner und Hartmann schienen die Ermittelnden eine Gruppe von drei rechtsgerichteten Tatverdächtigen, welche sich nach entsprechenden Vernehmungen dem Haftrichter würden vorführen lassen. Allein Temme war nach wie vor dringend tatverdächtig. Der Verdacht gegen ihn erhärtete sich am 16. Juni durch eine genaue Rekonstruktion des Mordes in Kassel. Dabei wurden die Zeug*innenaussagen wiedergegeben und in einen Zusammenhang gebracht mit den jeweiligen PC- und Telefon-Aktivitäten der einzelnen Zeugen in dem Internet-Café. (PUA Hessen, Linke S.20 ff). Am selben Tag wurde eine Wegrekonstruktion mit der Dortmunder Zeugin gemacht und ein neues Protokoll erstellt. In diesem tauchen zwei neue Aspekte auf. Sie erwähnt das Basecap und bezeichnet die beiden tatverdächtigen Männer als „Junkies oder Nazis“. Die Ermittler*innen waren jetzt jeden Tag aktiv. Am 18. Juni fasst Profiler Alexander Horn in einem Vermerk für die „MK Café“ den bis dahin erreichten Wissensstand zu Andreas Temme zusammen. Er forderte hier, dass „im Rahmen der Vorbereitung der Vernehmung“ von Temme Gespräche mit den Verantwortlichen des hessischen LfV geführt werden sollten. Horn formulierte weiter: „Das Ziel dieser Gespräche sollte eine Infragestellung und Erschütterung der derzeit überraschend stark wirkenden innerdienstlichen Position des Temme sein.“ Horn riet dazu, das LfV zu einer „echten Kooperation“ aufzufordern, „da sonst eine Schädigung der Behörde unvermeidbar sein dürfte (Schriften mit rechtsextremistischem Hintergrund im Privatbesitz, Haschbesitz). Horn spricht davon, dass dem LfV drei allesamt „unerfreuliche“ Szenarien verdeutlicht werden müssten:- T. als Täter
- T. als Zeuge, der eine wichtige Wahrnehmung verschweigt
- T. als Person, die zur falschen Zeit, am falschen Ort ist, sich danach falsch verhält (er hat sich nicht selbst gemeldet) und er zudem mit seinem Besuch des Internetcafés erheblich gegen interne Sicherheitsregeln verstoßen hat.“ Horn sah hier bei Temme „Anzeichen für eine überangepasste Persönlichkeit, die eigene Interessen auch in der Vergangenheit verdeckt verfolgt hat.“ (PUA Hessen, Linke, S. 81–83).